Übersetzen ist nichts für Feiglinge

Wer sich schon einmal herangewagt hat an die Übersetzung eines literarischen, wenn nicht gar eines klassischen literarischen Textes in die eigene, die Muttersprache, der wird sich unterwegs mehr als einmal gefragt haben: Warum tue ich mir das an? Bevor andere fragen: Warum tust du das diesem Text an? Gibt es davon nicht schon etliche Übertragungen? 

Was stimmt denn nicht mit den Übersetzungen, die vorliegen? Genau das ist der Punkt. Wer sich heranmacht an einen bekannten literarischen Text aus einer anderen Sprache (es muss ja nicht gleich Altgriechisch sein), um ihn in die eigene zu übertragen, der muss unzufrieden sein mit dem, was er schon vorfindet. Sei es, dass die Übersetzungen schon sehr alt sind. Sei es, dass sie einfach schlecht sind. Oder gar zu frei. Oder gar zu eng.

   In einer der letzten Ausgabe von 'Lettre' (Nr. 123 vom Winter 2018) liefert Kurt Steinmann mal wieder einen guten Grund, sich diese doch etwas sperrige Zeitschrift - sperrig im Format, in den Textlängen, in den Themen, in den Schreibweisen - weiter 'zu halten'. Manche Artikel liest man nie recht aus, weil sie so ergiebig sind. So anregend. So - ja, so gelehrt, dass es eine Freude ist. Dass es das noch gibt!

 


Pieter Coecke van Aelst (1502-1550): "St. Hieronymus in seinem Studierzimmer". Hieronymus war der Verfasser der 'Vulgata', lange Zeit DIE maßgebliche Bibelübersetzung ins Lateinische. van Aelst, selbst als Übersetzer tätig, malte sein Vorbild um 1530..
Pieter Coecke van Aelst (1502-1550): "St. Hieronymus in seinem Studierzimmer". Hieronymus war der Verfasser der 'Vulgata', lange Zeit DIE maßgebliche Bibelübersetzung ins Lateinische. van Aelst, selbst als Übersetzer tätig, malte sein Vorbild um 1530..

   Steinmann liefert in seinem Beitrag volle sechs (!) 'Lettre'-Seiten übers Übersetzen ('Homer übersetzen. Über poetische Schönheit und Botschaft aus anderer Zeit', S. 76-81). Und er weiß wahrlich wovon er schreibt, hat er doch gerade erst eine weitere komplette Übersetzung der 'Ilias' vorgelegt. Und davor schon die "Odyssee" übersetzt. Und Aischylos. Und Sophokles. Und ...

War das nötig? 15.693 Verse Altgriechisch - was treibt einen, sich da heranzuwagen? Warum tut man das? Steinmann sicherlich, weil er es kann. Aber vor allem wohl, weil er den Prozess liebt, den er dabei durchlebt, auch wenn es Jahre braucht. 

   Denn, so zitiert Steinmann seinen berühmten Vorgänger Ortega y Gasset: "Die Übersetzung ist nicht das (zu übersetzende Werk), sondern ein Weg zum Werk."*  Ein Übersetzer, so Steinmann, sei in diesem Sinn ein Pfad-sucher, "im besten Fall Pfad-finder".

Und im allerbesten Fall erzeugt er neues Interesse an doch scheinbar Altbekanntem.  

   Die 'Ilias' neu zu lesen, dieser Wunsch ist bei mir daraus entstanden. Auch ein echtes Herangehen. Nichts für den Nachttisch. Obwohl - warum eigentlich nicht? 


*Bezeichnenderweise heißt y Gassets Werk, das Steinmann hier anführt, 'Elend und Glanz des Übersetzen', wobei 'Elend' nicht zufällig vorn steht.