Andreas Brandtner, Autor & Herausgeber
Übers Lesen, übers Schreiben
Gefundenes & Erfundenes
Übersetzen ist nichts für Feiglinge
Wer sich schon einmal herangewagt hat an die Übersetzung eines literarischen, wenn nicht gar eines klassischen literarischen Textes in die eigene, die Muttersprache, der wird sich unterwegs mehr als einmal gefragt haben: Warum tue ich mir das an? Bevor andere fragen: Warum tust du das diesem Text an? Gibt es davon nicht schon etliche Übertragungen?
Was stimmt denn nicht mit den Übersetzungen, die vorliegen? Genau das ist der Punkt. Wer sich heranmacht an einen bekannten literarischen Text aus einer anderen Sprache (es muss ja nicht gleich Altgriechisch sein), um ihn in die eigene zu übertragen, der muss unzufrieden sein mit dem, was er schon vorfindet. Sei es, dass die Übersetzungen schon sehr alt sind. Sei es, dass sie einfach schlecht sind. Oder gar zu frei. Oder gar zu eng.
In einer der letzten Ausgabe von 'Lettre' (Nr. 123 vom Winter 2018) liefert Kurt Steinmann mal wieder einen guten Grund, sich diese doch etwas sperrige Zeitschrift - sperrig im Format, in den Textlängen, in den Themen, in den Schreibweisen - weiter 'zu halten'. Manche Artikel liest man nie recht aus, weil sie so ergiebig sind. So anregend. So - ja, so gelehrt, dass es eine Freude ist. Dass es das noch gibt!
Von Print zu Pixel - was macht das mit dem Akt des Lesens?
Wo soll das alles enden? Was wird aus der Kultur des Lesens und des Schreibens, aus Bibliotheken und Verlagen und Buchhandlungen, kurz: Was wird aus der ganzen Buchkultur, die wir heute noch kennen, wenn "das Digitale" überhand nimmt? Ein kleines Plädoyer für Koexistenz.
Kulturkritisch lässt sich immer gut der Verlust von Kulturtechniken beklagen. Der Untergang des Abendlandes scheint immer näher zu rücken. Beispielsweise ist uns bereits jetzt die Kunst des Briefeschreibens verloren gegangen. Flächendeckend. Mal ein kleiner Selbsttest und Hand aufs Herz: Wann haben Sie den letzten handgeschriebenen Brief erhalten - oder gar versandt? Und unsere Kinder, ach, sie lesen nicht mehr. Sie schauen nur noch auf Bildschirme. Wer weiß, wohin das führt?
So kann man heran gehen an die nicht zu übersehenden Veränderungen, die das digitale Zeitalter für das Lesen und das Schreiben mit sich bringt. Aber man könnte das alles auch ganz anders betrachten. Dann wäre die Frage anders zu stellen, nämlich: Wie verändern digitale Medien unser Lesen und Schreiben? Denn dass weniger gelesen oder geschrieben wird, das wäre erst einmal empirisch zu überprüfen. Wer heute auf sich hält, hat einen Blog (siehe hier!) und schreibt Briefe oder Artikel für jedermann. Wer keine
Zeitung (mehr) liest, wird doch mindestens im Internet Nachrichten lesen. Und wer sich in der großen weiten Welt der Online-Spiele tummelt, kommt ohne lesen zu können nicht weit.
Lässt sich dieses Lesen vergleichen mit, sagen wir, dem Lesen der ›Odyssee‹ oder von ›Moby Dick‹? Kann man dieses neue 'Lesen' vergleichen mit der Kulturtechnik gleichen Namens? Leicht suggestiv solche Fragen, zugegeben. Natürlich ist das etwas anderes. Aber zunächst wäre zu beweisen, dass Homer und Melville heute nicht mehr oder wirklich weniger gelesen werden (mich hält das Interesse am Digitalen davon jedenfalls nicht ab). Massentauglich waren die doch nie, oder? Hat sich das signifikant verändert?
Trotzdem mag es natürlich etwas anderes sein, Homer auf dem eBook-Reader zu lesen als in einem dicken Folianten, möglichst noch in Fraktur gedruckt - um mal die Hürden noch ein bisschen zu vermehren.
Fresko aus Pompeji aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. Oftmals wird die lesende Frau mit Sappho identifiziert, aber dafür gibt es keinen echten Beleg.
"Fadenriss" - eine Spurensuche
Wie nähert man sich - wenigstens literarisch - einem Onkel, der keiner mehr werden konnte? Weil sein kurzes Leben 1944 in der Normandie abrupt endete? Vielleicht über sein kleines künstlerisches Werk, das wie durch ein Wunder erhalten blieb?
Sso wenig Spuren er sonst hinterlassen hat: 45 Zeichnungen haben Krieg und Flucht und alles übrige überdauert. Und er hat Neffen, Nichten, Großneffen, Großnichten ... Mein Buchprojekt ›Fadenriss‹ will diesen kleinen Schatz an Zeichnungen aus den 30er und 40er Jahren heben. Nicht, um damit eine
besondere künstlerische Bedeutung zu behaupten. Sondern, um an jemanden zu erinnern, der beispielhaft für Millionen steht, deren Lebensfaden allzu früh riss, deren Begabungen, Pläne und Ideen einfach ausgelöscht wurden. Das Layout ist in Arbeit. Der Begleittext macht Fortschritte ...
Hans Dominik und die Grenzen schreibender Prophetie
Im Oktober 2016 wurde von der Ganymed Edition ein Roman in die Reihe ›Phantastische Klassiker‹ aufgenommen, der aus dem Jahr 1922 stammt. Der Titel: ›Die Macht der Drei‹. Der Autor: Hans Dominik. Wegen seiner überragenden Bedeutung für die Entwicklung phantastischer Literatur in Deutschland lohnt ein Blick darauf, wie Dominik seine Rolle als schreibender Ingenieur sah.
Aus meiner Kindheit schon war mir Hans Dominik ein Begriff. Im Arbeitszimmer meines Vaters gab es sicherlich acht oder zehn seiner Bücher, etliche davon mit den charakteristischen grünen Einbänden, in denen Dominiks Werke in den 20er und 30er Jahren erschienen.
Dass mein Vater diese Bücher besaß und sicherlich auch gelesen hatte, war nichts Ungewöhnliches. Dominik war enorm populär. Bis 1940 produzierte er einen Bestseller nach dem anderen. Mehrere seiner Bücher erreichten Auflagen von mehr als 100.000, ›Land aus Feuer und Wasser‹ sogar mehr als 250.000 Exemplare – für die Zeit vor dem II. Weltkrieg eine enorme Zahl. Dominik war der erfolgreichsten Pioniere von technisch orientierter Zukunftsliteratur in Deutschland.
Hans Dominik sah sich ›eigentlich‹ vor allem als deutscher Ingenieur. So ließ er sich gern auch porträtieren. Sehr deutlich macht dies ein Aufsatz Dominiks, den er selbst 1935 in ›Die Macht der Drei‹ einfügen ließ. Der Text (in der Neuasgabe der Ganymed Edition ab Seite 336) zeigt den Blick des zukunftsgewissen Ingenieur-Schriftstellers Dominik, der sich seiner eigenen Fähigkeiten so gewiss ist, dass er für lohnend hält, »im einzelnen einmal zu prüfen, was ... bereits Wahrheit wurde« von dem, was er ›prophezeite‹. Dominik benutzt dieses Wort ohne Anführungen, also wohl im vollen Ernst.
Dabei ist interessant, was Dominik beschäftigte: die Entwicklung der Technik, insbesondere der Energietechnik (Nutzung der Blitzenergie und der Atomenergie), der Luftfahrt (hocheffiziente Segelflieger und Luftschiffe) und der Kommunikation (pneu-matische Post). Science-Fiction-Themen par excellence wie gesellschaftliche Entwick-lungen, Forschung, Zeitreisen, Raumfahrt oder Roboter sind interessanterweise nie oder ganz selten sein Thema. Sein Held ist der Ingenieur.
Mit diesem Ansatz hatte Dominik in der Tat eine beeindruckende Reihe von ›Treffern‹ zu verbuchen, mindestens in seinen frühen Zukunftsromanen. Auf eine kurze Distanz passte da manches. ›Die Macht der Drei‹ geht aber auf die lange Distanz. Der Roman erschien erstmals 1921/1922 als Fortsetzungsroman in einer Wochenschrift. Er spielt 1955, für Dominik in ferner, ferner Zukunft. Für heutige Leser liegt 1955 aber schon viel weiter in der Vergangenheit als damals in der Zukunft.
Wir wissen also mehr. Aberr was damals niemand wissen konnte, kann man Dominik nicht nachträglich vorwerfen. Natürlich hatte er 1922 nichts wissen, ja nicht einmal ahnen können von dem zweiten großen Krieg der 17 Jahre später ausbrach und noch weit stärker als der 1. Weltkrieg alles umkrempelte. Und seit Beginn der 90er Jahre erleben wir einen erneuten Epochenbruch, der für Dominik und seine Zeit schlicht nicht antizipierbar war. Die Digitalisierung aller Lebensbereiche, die Entwicklung virtueller Welten, völlig neuartige Kommunikationslandschaften, Nano- und Gentechnik – das alles ist ja selbst für uns noch vergleichsweise neu, drei Generationen später.
In einem Parallelweltroman von Alastair Reynolds (›Century Rain‹, 2004, deutsch: ›Ewigkeit‹, 2008) wird die Erde im Jahr 1959 geschildert, aber in einem 1959 ohne 2. Weltkrieg. Es ist eine Welt ohne Computer, damit auch ohne Internet, ohne bemannte Raumfahrt – eine Welt, die mit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts noch wie in einem Kontinuum verbunden scheint.
In einer solchen Idee von Fortschreibung vorhandener Linien entwickelte auch Dominik ›sein‹ 1955, mit den beiden dominierenden Weltmächten England und USA, mit gewaltigen Luftschiff-Flotten und einer Telekommunikation, die auf Fernschreibern, Rohrpost und Telefon basiert (immerhin das war auch in der realen Welt 1955 noch nicht viel anders).
(Auszug aus meinem Vorwort zur Neuausgabe von Dominiks Roman
Die Macht der Drei
Utopischer Roman aus dem Jahr 1922
von Hans Dominik
354 Seiten, 14, - Euro
ISBN 978-3-946223-23-0 (Softcov.)
als eBook ISBN 978-3-946223-33-7
erschienen in der Ganymed Edition
Mehr zum Buch hier
Direkt bestellen hier
Ein Klassiker der SF: Samjatins ›Wir‹
Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man bewundernd feststellen: Jevgenij Samjatin hatte es 1920 mit seinem Roman ›Wir‹ tatsächlich geschafft, die totalitären Herrschaftskatastrophen des 20. Jahrhunderts schreibend vorwegzunehmen. Leider hatte er wohl auch sein eigenes Schicksal damit besiegelt.
Natürlich konnte Samjatin mit dem Wissen von 1920 nicht annähernd ermessen, wie treffsicher und wie folgenreich sein Roman ›Wir‹ einmal sein würde. 1920: Das war gerade drei Jahre nach der Oktoberrevolution; der darauf folgende russische Bürgerkrieg ging erst zu Ende. 1920: Da hatte Stalin es noch längst nicht an die Spitze der entstehenden Sowjetunion geschafft. Und Hitler war erst dabei, sich einen Namen als Volksredner zu machen.
Der ungleich bekanntere dystopische Roman ›Brave New World‹ (deutsch: ›Schöne neue Welt‹) von Aldous Huxley erschien 1932, George Orwells ›1984‹ sogar erst 1949. Vier Jahre später kam Ray Bradbury mit ›Fahrenheit 451‹. Sie alle verdanken Samjatins ›Wir‹ so einiges. Dass Schriftsteller sich gegenseitig anregen, nachahmen, persiflieren, zitieren, gehört gewissermaßen zum Handwerk. Sagen wir, es gibt Parallelen zwischen ›Wir‹, ›1984‹ und ›Schöne neue Welt‹. Diese Parallelen sind tatsächlich unübersehbar, wenn man erst einmal angefangen hat zu suchen. Samjatin, Huxley und Orwell sind in einem Atemzug zu nennen, sie bieten die wesentlichen Bezugspunkte, wenn es um die Entwicklung literarischer Anti-Utopien geht.
Orwell veröffentlichte sein Buch nach dem Ende des III. Reiches, Huxley seines in einer Zeit, in der die Begleiterscheinungen einer totalitären Diktatur moderner Prägung in der Sowjetunion bereits studiert werden konnten: Führerkult, Spitzelwesen, Schauprozesse, gezielte Verfälschungen der Geschichte und der Sprache, um nur einige zu nennen. Das war alles längst Realität geworden.
Samjatin dagegen schrieb viel früher. 1920 stand das alles schon in seinem Buch, wenn er es auch nicht veröffentlichen konnte. Damit hätte er jeden Erfolg verdient gehabt, zumal er der Erste war, der so etwas schrieb.
»Ich habe Angst, dass wir keine wirkliche Literatur haben werden,
solange man das russische Volk
als ein Kind ansieht,
das man behüten muss.«
Jevgenij Iwanowitsch Samjatin hatte ›nur‹ das Pech, unter einer Regierung zu leben, die ihn mit einem drakonischen Verbot zu publizieren belegte. Dann kamen die 30er, dann die 40er Jahre (da lebte Samjatin schon nicht mehr), mit Terror, Krieg und Nachkriegszeit. Und danach waren er und sein Roman ›Wir‹ erst einmal verschüttet und vergessen, wenn denn überhaupt schon eine breitere Wahrnehmung eingesetzt hatte.
(Auszug aus meinem Vorwort zur Neuausgabe von Samjatins Roman ›Wir‹)
Wir
Utopischer Roman von Jevgenij I. Samjatin
220 Seiten, 14, - Euro
ISBN 978-3-946223-11-5 (Softcov.)
als eBook ISBN 978-3-946223-12-2
erschienen in der Ganymed Edition
Erzählen für Kinder? Einfach anfangen!
Wer Kinder ins Bett bringt oder mit ihnen einen regnerischen Nachmittag überstehen will, kommt auf die Anfänge des Erzählens zurück. Denn Kinder sind als Publikum ganz ursprünglich.
Schreiben bedeutet erzählen - wenn es nicht gerade um Sachbücher geht (und selbst dann oftmals). Wer etwas schreibend erzählt, hat gerade niemanden, dem er es direkt erzählen kann. Oder erzählt sich selbst eine Geschichte, die erst im Schreiben und nur durch das Schreiben entsteht. Vielleicht auch ist das, was zu berichten ist, zu komplex oder zu schwierig oder zu schwer zu ertragen oder zu unverstanden, um mündlich (schon) davon erzählen zu können.
Wer Kinder ins Bett bringt oder mit ihnen einen regnerischen Nachmittag überstehen will, kommt auf die Anfänge des Erzählens zurück. Immer mal vorausgesetzt, dass nicht Audiobooks und iPads diesen Job übernehmen. »Erzähl mir etwas. Biiiiiitte!« Kinder sind da sehr klar. Und kaum etwas lieben sie mehr als 'live' Ausgedachtes. Vorlesen ist auch sehr schön, aber schlichtes Erzählen toppt alles.
Zugleich ist das aber nicht wirklich einfach. Wir haben kaum noch Zugang zu dem Geschichtenschatz, den unsere Vorväter und -mütter nutzen konnten, weil ihnen auch noch so erzählt worden war. Zwei bis drei Generationen Fernsehen etc. haben diesen Kanal verschüttet. Und wirklich selbst etwas ausdenken? Wie geht das?
»Schreiben ist Erzählen.
Anfangen zählt. Machen zählt.«
Ganz einfach: Frag die Kinder. Was soll vorkommen in der Geschichte? Worum soll es gehen? Sie haben IMMER entsprechende Wünsche. Und dann muss man anfangen. Einfach anfangen. Ich habe gelernt, darauf zu vertrauen, dass sich die Geschichte einfindet, wenn erst einmal ein Anfang gemacht ist.
Ob nun »Es war eine dunkle und stürmische Nacht« wie bei Großmeister Snoopy oder schlicht »Es war einmal« - die Geschichte ›kommt‹, die Kinder hängen einem wie gebannt an den Lippen. Und auch, wenn das Ergebnis nicht immer den eigenen Ansprüchen genügt: Den Kindern muss es gefallen. Der Pulitzer kommt später.
Kinder sind als Publikum ganz ursprünglich. Sie lieben den Akt des Erzählens. Wir alle lieben das. Schreiben ist Erzählen. Anfangen zählt. Machen zählt. That´s it.
Georges-Arthur Goldschmidt: ›Der Ausweg‹
(Rezension) - Das muss man erst einmal schaffen: So scheinbar Disparates wie Moritz´ ›Anton Reiser‹, Réages ›Geschichte der O‹ und Flauberts ›Madame Bovary‹ in einem schmalen Erzählungsbändchen in eine Verbindung zu bringen. Aber Goldschmidt gelingt nicht nur dies. Er zeigt, wie lebensnotwendig Schreiben sein kann. Und lässt den Leser nach gerade einmal 157 Seiten reichlich beklommen allein zurück.
So wenig das Schicksal Georges-Arthur Goldschmidt geschont hat, so wenig schont er sich selbst in seiner autobiographischen Erzählung ›Der Ausweg‹. Dass er eingangs aus Karl Philipp Moritz´ romanhaft verfremdeter Autobiographie ›Anton Reise‹ zitiert, ist Programm: Schonungslos wie jener geht Georges-Arthur Goldschmidt mit dem um, was ihm wiederfahren ist. Und schont auch den Leser wenig, der manchmal nicht recht weiß, wohin er sich wenden soll, ob er das alles in dieser Detailliertheit wirklich wissen wollte, ja wissen sollte.
Was Goldschmidt schildert, kann hier nicht paraphrasiert werden. Warum? Weil alles, was der Autor 'uns sagen will´, im Text schon so verdichtet, mit so hoher sprachlicher Präzision beschrieben ist, das mir höchstens Zitate möglich scheinen. Zum Beispiel dieses: »Erzählt wird hier aus dem Leben eines verstörten Jünglings, der auf Fremde angewesen ist, die ihm überhaupt nichts Böses wollen, ihn aber nach den Prinzipien und Standpunkten der damaligen Zeit 1944 - 1947 erziehen«, schreibt Goldschmidt im Vorwort.
›Die ihm überhaupt nichts Böses wollen‹ - das bleibt einem fast im Halse stecken angesichts der Erniedrigungen und Demütigungen, die der ›verstörte Jüngling‹ erdulden und als etwas für die Zeit und die Umstände Normales, Übliches, gar nicht Ungewöhnliches hinnehmen muss.
Man wünschte fast, dies alles habe sich in viel tieferer Vergangenheit abgespielt, etwa in Moritz´ 18. Jahrhundert. Das wäre gnädiger, als akzeptieren zu müssen: Dies alles war gerade erst.
Moritz hatte seinem Alter Ego noch einen Namen geben können: Anton Reiser eben. Dadurch hatte er aus seinem eigenen Leben und Erleben etwas Spezielles, etwas Individuelles, einen Roman gemacht. Und dem Leser eine Chance zur distanzierten Lektüre gegeben.
Goldschmidt bietet diesen Trost nicht. Er beschreibt »Einige Tage aus dem Leben eines Namenlosen« hautnah, ohne Distanz. Und das heißt dann als Botschaft an den Leser:
Hier wird von Erziehungsritualen erzählt, die unerträglich scheinen, aber nicht nur von diesem einen, sondern von ungezählten Namenlosen ertragen werden mussten, sie zerbrachen und deformierten.
So, wie Solschenyzin in ›Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch‹ am Schicksal eines Einzelnen das ganze
Gulag-System beschrieb und dadurch anschaulich machte.
Iwan Denissowitsch allerdings bleibt ebenso wenig ein Ausweg wie Anton Reiser. Beide bleiben gefangen und können nicht herausfinden. Keine Rettung nirgends. Gold- schmidt findet einen Ausweg. Aber der macht die ganze Geschichte eher noch verstörender. Denn all die beschämenden Strafen, die er erfährt, lösen bei ihm Lust aus. So sehnt er die nächsten Strafen schon herbei, wofür er sich dann erst recht schämt. Aus diesem Teufelskreis führt ihn am Ende nur das Schreiben heraus. Dem Leser hilft das weniger.
Georges-Arthur Goldschmidt: ›Der Ausweg. Eine Erzählung‹
(Aus dem Französischen vom Autor selbst)
160 Seiten, S. Fischer, Frankfurt (2014)
Ayelet Gundar-Goshen: ›Löwen wecken‹
(Rezension) - Wenn schon ihr Erstling (›Eine Nacht, Markowitz‹) ein "Donnerhall" (WDR) war - was ist dann erst ›Löwen wecken‹ ? Ayelet Gundar-Goshen hat einen neuen Roman vorgelegt. Und zwingt zum behutsamen, langsamen Lesen, will man nichts verpassen von dem, was hier erzählerisch passiert.
Man will eigentlich dem Plot folgen. Der bringt wirklich genug Sog ins Lesen: Gut situierter Mann begeht Fahrerflucht und bringt dadurch seine eigene Welt völlig aus den Fugen. Spätestens seit Tom Wolfe's ›Fegefeuer der Eitelkeiten‹ ist das ein bewährtes Sujet.
Aber dann muss der Leser, der behutsame Leser, ständig innehalten. Noch einmal lesen. Und noch einmal. Vielleicht sogar etwas herausschreiben (oder, als Barbar, im Buch markieren). Um nichts zu verpassen von den präzisen Beobachtungen, von den sprach-lichen Kostbarkeiten, die Ayelet Gundar-Goshen über ihren Text ausstreut, als wäre es gar nichts.
Die Autorin lässt dem Leser wenig Wahl. Mitten im Erzählen, klassisch meist im Imperfekt, verfällt der Text ins Präsens und zwingt, innezuhalten. Das geschieht sogar mitten im Absatz. Ein schöner Kniff, denn der Leser versteht bald: Im Präsens wird reflektiert, wird intensiviert, wird oft eine bestimmte, jeweils andere Perspektive geboten, schaltet die Geschichte auf 'real time'. Das beginnt erst nach etlichen Seiten im Buch, fast unmerklich.
Warum erzähle ich hier so wenig über die eigentliche Geschichte? Dabei wäre viel zu sagen über das, was sich zwischen den Hauptpersonen abspielt: Zwischen Etan Grien, dem fahrerflüchtenden Arzt. Und Liat, seiner Frau, der Kriminalistin mit dem scharfem Blick, den sie nur zu Haus bewusst abschaltet - und dadurch blind wird für das, was direkt vor ihr liegt. Und Sirkit, als Witwe des Unfallopfers eigentlich Opfer, aber dann ... etwas ganz anderes.
Nun, die Geschichte packt den Leser sowieso. Darauf ist Verlass. Alle großen Themen werden verhandelt, mitunter wie nebenbei: Liebe und Hass, Leben und Tod, Schuld und Sühne, Heimat und Fremde. Alles spielt sich auf kleinstem Raum ab, im eh schon kleinen Israel, fast wie ein Theaterstück.
Aber wie das gemacht wird, das ist das Besondere. Dieses Buch ist Literatur im besten Sinn. Hier steht das Erzählen 'an sich' im Vordergrund, das 'Wie': Wie die Autorin den Ton wechselt, die Atmosphäre verdichtet, den Leser mitzwingt. Das wirkt manchmal fast kühl, analytisch, distanziert. Aber gerade dadurch lässt Gundar-Goshen ihren Lesern kaum eine Chance, den eigenen Kopf und die eigenen Gefühle herauszuhalten.
Ayelet Gundar-Goshen: ›Löwen wecken‹
(Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama)
424 Seiten, Verlag Kein & Aber, Berlin (2015)
Vom Lesen & vom Schreiben
Social Media bieten wirklich spannende Möglichkeiten, zu teilen. Oder für sich selbst zu sammeln. Ich finde zum Beispiel FlipBoard sehr hilfreich. Und sammle in zwei Online-Magazinen, die für jedermann zugänglich sind, was ich so finde zu ›On Writing (Vom Schreiben)‹ und ›On Reading (Vom Lesen)‹. Anders als bei Printmagazinen kann man hier ständig nachlegen. Clickt mal drauf, zum Ausprobieren.
Munro: Eine Geschichte ist...
Alice Munro darüber, was eine Geschichte ausmacht: "Eine Geschichte ist nicht wie eine Straße, der man folgt ... sie ist mehr wie ein Haus. Du kannst immer und immer wieder zurückkehren, und das Haus, die Geschichte, enthält jedesmal mehr, als Du beim letzten Mal bemerkt hast. Sie hat außerdem ein sehr robustes Gefühl dafür, selbst aus ihrer ganz eigenen Notwendigkeit entstanden zu sein, und nicht etwa, um Dich zu schützen oder zu verführen." (mehr dazu)
Vom Lehren und Lernen
Der 5-Minuten-Lektüretipp: Auf medium gibt es einen wunderbaren kleinen Text von Jonathan Carroll zum Lehren und Lernen, insbesondere zum Umgang mit Literatur: "The correct answer is yes and no". Es geht im Kern darum, wie man ein Gedicht verstehen kann. Und wie noch. Und wie noch. Am Ende steht der schöne Satz: "Lehrer können Dir Türen öffnen. Hindurchgehen musst Du schon selbst."
Übersetzen ist nichts für Feiglinge
Wer sich schon einmal herangewagt hat an die Übersetzung eines literarischen, wenn nicht gar eines klassischen literarischen Textes in die eigene, die Muttersprache, der wird sich unterwegs mehr als einmal gefragt haben: Warum tue ich mir das an? Bevor andere fragen: Warum tust du das diesem Text an? Gibt es davon nicht schon etliche Übertragungen?
Was stimmt denn nicht mit den Übersetzungen, die vorliegen? Genau das ist der Punkt. Wer sich heranmacht an einen bekannten literarischen Text aus einer anderen Sprache (es muss ja nicht gleich Altgriechisch sein), um ihn in die eigene zu übertragen, der muss unzufrieden sein mit dem, was er schon vorfindet. Sei es, dass die Übersetzungen schon sehr alt sind. Sei es, dass sie einfach schlecht sind. Oder gar zu frei. Oder gar zu eng.
In einer der letzten Ausgabe von 'Lettre' (Nr. 123 vom Winter 2018) liefert Kurt Steinmann mal wieder einen guten Grund, sich diese doch etwas sperrige Zeitschrift - sperrig im Format, in den Textlängen, in den Themen, in den Schreibweisen - weiter 'zu halten'. Manche Artikel liest man nie recht aus, weil sie so ergiebig sind. So anregend. So - ja, so gelehrt, dass es eine Freude ist. Dass es das noch gibt!
Steinmann liefert in seinem Beitrag volle sechs (!) 'Lettre'-Seiten übers Übersetzen ('Homer übersetzen. Über poetische Schönheit und Botschaft aus anderer Zeit', S. 76-81). Und er weiß wahrlich wovon er schreibt, hat er doch gerade erst eine weitere komplette Übersetzung der 'Ilias' vorgelegt. Und davor schon die "Odyssee" übersetzt. Und Aischylos. Und Sophokles. Und ...
War das nötig? 15.693 Verse Altgriechisch - was treibt einen, sich da heranzuwagen? Warum tut man das? Steinmann sicherlich, weil er es kann. Aber vor allem wohl, weil er den Prozess liebt, den er dabei durchlebt, auch wenn es Jahre braucht.
Denn, so zitiert Steinmann seinen berühmten Vorgänger Ortega y Gasset: "Die Übersetzung ist nicht das (zu übersetzende Werk), sondern ein Weg zum Werk."* Ein Übersetzer, so Steinmann, sei in diesem Sinn ein Pfad-sucher, "im besten Fall Pfad-finder".
Und im allerbesten Fall erzeugt er neues Interesse an doch scheinbar Altbekanntem.
Die 'Ilias' neu zu lesen, dieser Wunsch ist bei mir daraus entstanden. Auch ein echtes Herangehen. Nichts für den Nachttisch. Obwohl - warum eigentlich nicht?
*Bezeichnenderweise heißt y Gassets Werk, das Steinmann hier anführt, 'Elend und Glanz des Übersetzen', wobei 'Elend' nicht zufällig vorn steht.
Von Print zu Pixel - was macht das mit dem Akt des Lesens?
Wo soll das alles enden? Was wird aus der Kultur des Lesens und des Schreibens, aus Bibliotheken und Verlagen und Buchhandlungen, kurz: Was wird aus der ganzen Buchkultur, die wir heute noch kennen, wenn "das Digitale" überhand nimmt? Ein kleines Plädoyer für Koexistenz.
Kulturkritisch lässt sich immer gut der Verlust von Kulturtechniken beklagen. Der Untergang des Abendlandes scheint immer näher zu rücken. Beispielsweise ist uns bereits jetzt die Kunst des Briefeschreibens verloren gegangen. Flächendeckend. Mal ein kleiner Selbsttest und Hand aufs Herz: Wann haben Sie den letzten handgeschriebenen Brief erhalten - oder gar versandt? Und unsere Kinder, ach, sie lesen nicht mehr. Sie schauen nur noch auf Bildschirme. Wer weiß, wohin das führt?
So kann man heran gehen an die nicht zu übersehenden Veränderungen, die das digitale Zeitalter für das Lesen und das Schreiben mit sich bringt. Aber man könnte das alles auch ganz anders betrachten. Dann wäre die Frage anders zu stellen, nämlich: Wie verändern digitale Medien unser Lesen und Schreiben? Denn dass weniger gelesen oder geschrieben wird, das wäre erst einmal empirisch zu überprüfen. Wer heute auf sich hält, hat einen Blog (siehe hier!) und schreibt Briefe oder Artikel für jedermann. Wer keine
Zeitung (mehr) liest, wird doch mindestens im Internet Nachrichten lesen. Und wer sich in der großen weiten Welt der Online-Spiele tummelt, kommt ohne lesen zu können nicht weit.
Lässt sich dieses Lesen vergleichen mit, sagen wir, dem Lesen der ›Odyssee‹ oder von ›Moby Dick‹? Kann man dieses neue 'Lesen' vergleichen mit der Kulturtechnik gleichen Namens? Leicht suggestiv solche Fragen, zugegeben. Natürlich ist das etwas anderes. Aber zunächst wäre zu beweisen, dass Homer und Melville heute nicht mehr oder wirklich weniger gelesen werden (mich hält das Interesse am Digitalen davon jedenfalls nicht ab). Massentauglich waren die doch nie, oder? Hat sich das signifikant verändert?
Trotzdem mag es natürlich etwas anderes sein, Homer auf dem eBook-Reader zu lesen als in einem dicken Folianten, möglichst noch in Fraktur gedruckt - um mal die Hürden noch ein bisschen zu vermehren.
Fresko aus Pompeji aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. Oftmals wird die lesende Frau mit Sappho identifiziert, aber dafür gibt es keinen echten Beleg.
Aber was genau wird da anders? Darüber habe ich dieser Tage online (!) einen sehr schönen Artikel von Kevin Kelly gefunden, etliche Jahre, nachdem er im Internet veröffentlicht wurde. Kellys Artikel (von 2010, aber aktuell wie je) auf Smithsonian.com fragt: "Während sich Bildschirme immer mehr verbreiten und die Menschen von Print zu Pixel wechseln, wie verändert das den Akt des Lesens?"
Bis vor wenigen Jahren, schreibt er, waren wir "people of the book", nun werden wir immer schneller zu "people of the screen". Aber Kelly jammert dann nicht und beklagt den Verlust. Sondern er beschreibt, was sich ändert.
Ja, das Lesen auf dem Screen ist nicht dasselbe wie das Lesen eines Buches oder das Lesen einer Zeitung. Aber in mancher Hinsicht ist es mehr. Screens verbinden Worte mit visuellen Medien, wie das die Printmedien niemals könnten. Screens bieten die Möglichkeit, sofort und überall zu recherchieren, nachzufragen, weil sie unendliche Verbindungen bereitstellen. Screens sind überall verfügbar, jederzeit. Sie "lesen" zu können, erfordert allerdings
neue Formen von Lesefähigkeit, unter anderem die Entzifferung einer Vielzahl von Symbolen, die es offline nicht gibt oder braucht, die Fähigkeit zur Selektion, zur Trennung von Spreu und Weizen. Doch hindert uns dies daran, auch weiterhin schöne Bücher zu lesen, an besonderen Plätzen, zu bewusst ausgewählten Zeiten? Wird das aussterben?
Für die Zukunft der Kulturtechnik des Schreibens mit der Hand wäre ich nicht so sicher. Das wird möglicherweise obsolet Aber klassische Lesekultur, die wird es weiter geben. Die lohnt es zu fördern und anzubieten, wo immer möglich. Neben dem Digitalen. Aber nicht im Sinne eines Kulturkampfes. Da gäbe es ganz andere Fronten, die zu eröffnen wären. Etwa bei der künftigen Rolle künstlicher Intelligenz. Wenn wir den Bots das Schreiben und danach das Denken überlassen, stecken wir wirklich tief im Sumpf. Aber danach sieht es wirklich nicht aus, wenn sich auch wunderbare Dystopie darüber verfassen ließen.
Hans Dominik und die Grenzen schreibender Prophetie
Im Oktober 2016 wurde von der Ganymed Edition ein Roman in die Reihe ›Phantastische Klassiker‹ aufgenommen, der aus dem Jahr 1922 stammt. Der Titel: ›Die Macht der Drei‹. Der Autor: Hans Dominik. Wegen seiner überragenden Bedeutung für die Entwicklung phantastischer Literatur in Deutschland lohnt ein Blick darauf, wie Dominik seine Rolle als schreibender Ingenieur sah.
Aus meiner Kindheit schon war mir Hans Dominik ein Begriff. Im Arbeitszimmer meines Vaters gab es sicherlich acht oder zehn seiner Bücher, etliche davon mit den charakteristischen grünen Einbänden, in denen Dominiks Werke in den 20er und 30er Jahren erschienen.
Dass mein Vater diese Bücher besaß und sicherlich auch gelesen hatte, war nichts Ungewöhnliches. Dominik war enorm populär. Bis 1940 produzierte er einen Bestseller nach dem anderen. Mehrere seiner Bücher erreichten Auflagen von mehr als 100.000, ›Land aus Feuer und Wasser‹ sogar mehr als 250.000 Exemplare – für die Zeit vor dem II. Weltkrieg eine enorme Zahl. Dominik war der erfolgreichsten Pioniere von technisch orientierter Zukunftsliteratur in Deutschland.
Hans Dominik sah sich ›eigentlich‹ vor allem als deutscher Ingenieur. So ließ er sich gern auch porträtieren. Sehr deutlich macht dies ein Aufsatz Dominiks, den er selbst 1935 in ›Die Macht der Drei‹ einfügen ließ. Der Text (in der Neuasgabe der Ganymed Edition ab Seite 336) zeigt den Blick des zukunftsgewissen Ingenieur-Schriftstellers Dominik, der sich seiner eigenen Fähigkeiten so gewiss ist, dass er für lohnend hält, »im einzelnen einmal zu prüfen, was ... bereits Wahrheit wurde« von dem, was er ›prophezeite‹. Dominik benutzt dieses Wort ohne Anführungen, also wohl im vollen Ernst.
Dabei ist interessant, was Dominik beschäftigte: die Entwicklung der Technik, insbesondere der Energietechnik (Nutzung der Blitzenergie und der Atomenergie), der Luftfahrt (hocheffiziente Segelflieger und Luftschiffe) und der Kommunikation (pneu-matische Post). Science-Fiction-Themen par excellence wie gesellschaftliche Entwick-lungen, Forschung, Zeitreisen, Raumfahrt oder Roboter sind interessanterweise nie oder ganz selten sein Thema. Sein Held ist der Ingenieur.
Mit diesem Ansatz hatte Dominik in der Tat eine beeindruckende Reihe von ›Treffern‹ zu verbuchen, mindestens in seinen frühen Zukunftsromanen. Auf eine kurze Distanz passte da manches. ›Die Macht der Drei‹ geht aber auf die lange Distanz. Der Roman erschien erstmals 1921/1922 als Fortsetzungsroman in einer Wochenschrift. Er spielt 1955, für Dominik in ferner, ferner Zukunft. Für heutige Leser liegt 1955 aber schon viel weiter in der Vergangenheit als damals in der Zukunft.
Wir wissen also mehr. Aberr was damals niemand wissen konnte, kann man Dominik nicht nachträglich vorwerfen. Natürlich hatte er 1922 nichts wissen, ja nicht einmal ahnen können von dem zweiten großen Krieg der 17 Jahre später ausbrach und noch weit stärker als der 1. Weltkrieg alles umkrempelte. Und seit Beginn der 90er Jahre erleben wir einen erneuten Epochenbruch, der für Dominik und seine Zeit schlicht nicht antizipierbar war. Die Digitalisierung aller Lebensbereiche, die Entwicklung virtueller Welten, völlig neuartige Kommunikationslandschaften, Nano- und Gentechnik – das alles ist ja selbst für uns noch vergleichsweise neu, drei Generationen später.
In einem Parallelweltroman von Alastair Reynolds (›Century Rain‹, 2004, deutsch: ›Ewigkeit‹, 2008) wird die Erde im Jahr 1959 geschildert, aber in einem 1959 ohne 2. Weltkrieg. Es ist eine Welt ohne Computer, damit auch ohne Internet, ohne bemannte Raumfahrt – eine Welt, die mit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts noch wie in einem Kontinuum verbunden scheint.
In einer solchen Idee von Fortschreibung vorhandener Linien entwickelte auch Dominik ›sein‹ 1955, mit den beiden dominierenden Weltmächten England und USA, mit gewaltigen Luftschiff-Flotten und einer Telekommunikation, die auf Fernschreibern, Rohrpost und Telefon basiert (immerhin das war auch in der realen Welt 1955 noch nicht viel anders).
(Auszug aus meinem Vorwort zur Neuausgabe von Dominiks Roman
Die Macht der Drei
Utopischer Roman aus dem Jahr 1922
von Hans Dominik
354 Seiten, 14, - Euro
ISBN 978-3-946223-23-0 (Softcov.)
als eBook ISBN 978-3-946223-33-7
erschienen in der Ganymed Edition
Mehr zum Buch hier
Direkt bestellen hier
Ein Klassiker der SF: Samjatins ›Wir‹
Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man bewundernd feststellen: Jevgenij Samjatin hatte es 1920 mit seinem Roman ›Wir‹ tatsächlich geschafft, die totalitären Herrschaftskatastrophen des 20. Jahrhunderts schreibend vorwegzunehmen. Leider hatte er wohl auch sein eigenes Schicksal damit besiegelt.
Natürlich konnte Samjatin mit dem Wissen von 1920 nicht annähernd ermessen, wie treffsicher und wie folgenreich sein Roman ›Wir‹ einmal sein würde. 1920: Das war gerade drei Jahre nach der Oktoberrevolution; der darauf folgende russische Bürgerkrieg ging erst zu Ende. 1920: Da hatte Stalin es noch längst nicht an die Spitze der entstehenden Sowjetunion geschafft. Und Hitler war erst dabei, sich einen Namen als Volksredner zu machen.
Der ungleich bekanntere dystopische Roman ›Brave New World‹ (deutsch: ›Schöne neue Welt‹) von Aldous Huxley erschien 1932, George Orwells ›1984‹ sogar erst 1949. Vier Jahre später kam Ray Bradbury mit ›Fahrenheit 451‹. Sie alle verdanken Samjatins ›Wir‹ so einiges. Dass Schriftsteller sich gegenseitig anregen, nachahmen, persiflieren, zitieren, gehört gewissermaßen zum Handwerk. Sagen wir, es gibt Parallelen zwischen ›Wir‹, ›1984‹ und ›Schöne neue Welt‹. Diese Parallelen sind tatsächlich unübersehbar, wenn man erst einmal angefangen hat zu suchen. Samjatin, Huxley und Orwell sind in einem Atemzug zu nennen, sie bieten die wesentlichen Bezugspunkte, wenn es um die Entwicklung literarischer Anti-Utopien geht.
Orwell veröffentlichte sein Buch nach dem Ende des III. Reiches, Huxley seines in einer Zeit, in der die Begleiterscheinungen einer totalitären Diktatur moderner Prägung in der Sowjetunion bereits studiert werden konnten: Führerkult, Spitzelwesen, Schauprozesse, gezielte Verfälschungen der Geschichte und der Sprache, um nur einige zu nennen. Das war alles längst Realität geworden.
Samjatin dagegen schrieb viel früher. 1920 stand das alles schon in seinem Buch, wenn er es auch nicht veröffentlichen konnte. Damit hätte er jeden Erfolg verdient gehabt, zumal er der Erste war, der so etwas schrieb.
»Ich habe Angst, dass wir keine wirkliche Literatur haben werden,
solange man das russische Volk
als ein Kind ansieht,
das man behüten muss.«
Jevgenij Iwanowitsch Samjatin hatte ›nur‹ das Pech, unter einer Regierung zu leben, die ihn mit einem drakonischen Verbot zu publizieren belegte. Dann kamen die 30er, dann die 40er Jahre (da lebte Samjatin schon nicht mehr), mit Terror, Krieg und Nachkriegszeit. Und danach waren er und sein Roman ›Wir‹ erst einmal verschüttet und vergessen, wenn denn überhaupt schon eine breitere Wahrnehmung eingesetzt hatte.
(Auszug aus meinem Vorwort zur Neuausgabe von Samjatins Roman ›Wir‹)
Wir
Utopischer Roman von Jevgenij I. Samjatin
220 Seiten, 14, - Euro
ISBN 978-3-946223-11-5 (Softcov.)
als eBook ISBN 978-3-946223-12-2
erschienen in der Ganymed Edition
Erzählen für Kinder? Einfach anfangen!
Wer Kinder ins Bett bringt oder mit ihnen einen regnerischen Nachmittag überstehen will, kommt auf die Anfänge des Erzählens zurück. Denn Kinder sind als Publikum ganz ursprünglich.
Schreiben bedeutet erzählen - wenn es nicht gerade um Sachbücher geht (und selbst dann oftmals). Wer etwas schreibend erzählt, hat gerade niemanden, dem er es direkt erzählen kann. Oder erzählt sich selbst eine Geschichte, die erst im Schreiben und nur durch das Schreiben entsteht. Vielleicht auch ist das, was zu berichten ist, zu komplex oder zu schwierig oder zu schwer zu ertragen oder zu unverstanden, um mündlich (schon) davon erzählen zu können.
Wer Kinder ins Bett bringt oder mit ihnen einen regnerischen Nachmittag überstehen will, kommt auf die Anfänge des Erzählens zurück. Immer mal vorausgesetzt, dass nicht Audiobooks und iPads diesen Job übernehmen. »Erzähl mir etwas. Biiiiiitte!« Kinder sind da sehr klar. Und kaum etwas lieben sie mehr als 'live' Ausgedachtes. Vorlesen ist auch sehr schön, aber schlichtes Erzählen toppt alles.
Zugleich ist das aber nicht wirklich einfach. Wir haben kaum noch Zugang zu dem Geschichtenschatz, den unsere Vorväter und -mütter nutzen konnten, weil ihnen auch noch so erzählt worden war. Zwei bis drei Generationen Fernsehen etc. haben diesen Kanal verschüttet. Und wirklich selbst etwas ausdenken? Wie geht das?
»Schreiben ist Erzählen.
Anfangen zählt. Machen zählt.«
Ganz einfach: Frag die Kinder. Was soll vorkommen in der Geschichte? Worum soll es gehen? Sie haben IMMER entsprechende Wünsche. Und dann muss man anfangen. Einfach anfangen. Ich habe gelernt, darauf zu vertrauen, dass sich die Geschichte einfindet, wenn erst einmal ein Anfang gemacht ist.
Ob nun »Es war eine dunkle und stürmische Nacht« wie bei Großmeister Snoopy oder schlicht »Es war einmal« - die Geschichte ›kommt‹, die Kinder hängen einem wie gebannt an den Lippen. Und auch, wenn das Ergebnis nicht immer den eigenen Ansprüchen genügt: Den Kindern muss es gefallen. Der Pulitzer kommt später.
Kinder sind als Publikum ganz ursprünglich. Sie lieben den Akt des Erzählens. Wir alle lieben das. Schreiben ist Erzählen. Anfangen zählt. Machen zählt. That´s it.
Georges-Arthur Goldschmidt: ›Der Ausweg‹
(Rezension) - Das muss man erst einmal schaffen: So scheinbar Disparates wie Moritz´ ›Anton Reiser‹, Réages ›Geschichte der O‹ und Flauberts ›Madame Bovary‹ in einem schmalen Erzählungsbändchen in eine Verbindung zu bringen. Aber Goldschmidt gelingt nicht nur dies. Er zeigt, wie lebensnotwendig Schreiben sein kann. Und lässt den Leser nach gerade einmal 157 Seiten reichlich beklommen allein zurück.
So wenig das Schicksal Georges-Arthur Goldschmidt geschont hat, so wenig schont er sich selbst in seiner autobiographischen Erzählung ›Der Ausweg‹. Dass er eingangs aus Karl Philipp Moritz´ romanhaft verfremdeter Autobiographie ›Anton Reise‹ zitiert, ist Programm: Schonungslos wie jener geht Georges-Arthur Goldschmidt mit dem um, was ihm wiederfahren ist. Und schont auch den Leser wenig, der manchmal nicht recht weiß, wohin er sich wenden soll, ob er das alles in dieser Detailliertheit wirklich wissen wollte, ja wissen sollte.
Was Goldschmidt schildert, kann hier nicht paraphrasiert werden. Warum? Weil alles, was der Autor 'uns sagen will´, im Text schon so verdichtet, mit so hoher sprachlicher Präzision beschrieben ist, das mir höchstens Zitate möglich scheinen. Zum Beispiel dieses: »Erzählt wird hier aus dem Leben eines verstörten Jünglings, der auf Fremde angewesen ist, die ihm überhaupt nichts Böses wollen, ihn aber nach den Prinzipien und Standpunkten der damaligen Zeit 1944 - 1947 erziehen«, schreibt Goldschmidt im Vorwort.
›Die ihm überhaupt nichts Böses wollen‹ - das bleibt einem fast im Halse stecken angesichts der Erniedrigungen und Demütigungen, die der ›verstörte Jüngling‹ erdulden und als etwas für die Zeit und die Umstände Normales, Übliches, gar nicht Ungewöhnliches hinnehmen muss.
Man wünschte fast, dies alles habe sich in viel tieferer Vergangenheit abgespielt, etwa in Moritz´ 18. Jahrhundert. Das wäre gnädiger, als akzeptieren zu müssen: Dies alles war gerade erst.
Moritz hatte seinem Alter Ego noch einen Namen geben können: Anton Reiser eben. Dadurch hatte er aus seinem eigenen Leben und Erleben etwas Spezielles, etwas Individuelles, einen Roman gemacht. Und dem Leser eine Chance zur distanzierten Lektüre gegeben.
Goldschmidt bietet diesen Trost nicht. Er beschreibt »Einige Tage aus dem Leben eines Namenlosen« hautnah, ohne Distanz. Und das heißt dann als Botschaft an den Leser:
Hier wird von Erziehungsritualen erzählt, die unerträglich scheinen, aber nicht nur von diesem einen, sondern von ungezählten Namenlosen ertragen werden mussten, sie zerbrachen und deformierten.
So, wie Solschenyzin in ›Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch‹ am Schicksal eines Einzelnen das ganze
Gulag-System beschrieb und dadurch anschaulich machte.
Iwan Denissowitsch allerdings bleibt ebenso wenig ein Ausweg wie Anton Reiser. Beide bleiben gefangen und können nicht herausfinden. Keine Rettung nirgends. Gold- schmidt findet einen Ausweg. Aber der macht die ganze Geschichte eher noch verstörender. Denn all die beschämenden Strafen, die er erfährt, lösen bei ihm Lust aus. So sehnt er die nächsten Strafen schon herbei, wofür er sich dann erst recht schämt. Aus diesem Teufelskreis führt ihn am Ende nur das Schreiben heraus. Dem Leser hilft das weniger.
Georges-Arthur Goldschmidt: ›Der Ausweg. Eine Erzählung‹
(Aus dem Französischen vom Autor selbst)
160 Seiten, S. Fischer, Frankfurt (2014)
Ayelet Gundar-Goshen: ›Löwen wecken‹
(Rezension) - Wenn schon ihr Erstling (›Eine Nacht, Markowitz‹) ein "Donnerhall" (WDR) war - was ist dann erst ›Löwen wecken‹ ? Ayelet Gundar-Goshen hat einen neuen Roman vorgelegt. Und zwingt zum behutsamen, langsamen Lesen, will man nichts verpassen von dem, was hier erzählerisch passiert.
Man will eigentlich dem Plot folgen. Der bringt wirklich genug Sog ins Lesen: Gut situierter Mann begeht Fahrerflucht und bringt dadurch seine eigene Welt völlig aus den Fugen. Spätestens seit Tom Wolfe's ›Fegefeuer der Eitelkeiten‹ ist das ein bewährtes Sujet.
Aber dann muss der Leser, der behutsame Leser, ständig innehalten. Noch einmal lesen. Und noch einmal. Vielleicht sogar etwas herausschreiben (oder, als Barbar, im Buch markieren). Um nichts zu verpassen von den präzisen Beobachtungen, von den sprach-lichen Kostbarkeiten, die Ayelet Gundar-Goshen über ihren Text ausstreut, als wäre es gar nichts.
Die Autorin lässt dem Leser wenig Wahl. Mitten im Erzählen, klassisch meist im Imperfekt, verfällt der Text ins Präsens und zwingt, innezuhalten. Das geschieht sogar mitten im Absatz. Ein schöner Kniff, denn der Leser versteht bald: Im Präsens wird reflektiert, wird intensiviert, wird oft eine bestimmte, jeweils andere Perspektive geboten, schaltet die Geschichte auf 'real time'. Das beginnt erst nach etlichen Seiten im Buch, fast unmerklich.
Warum erzähle ich hier so wenig über die eigentliche Geschichte? Dabei wäre viel zu sagen über das, was sich zwischen den Hauptpersonen abspielt: Zwischen Etan Grien, dem fahrerflüchtenden Arzt. Und Liat, seiner Frau, der Kriminalistin mit dem scharfem Blick, den sie nur zu Haus bewusst abschaltet - und dadurch blind wird für das, was direkt vor ihr liegt. Und Sirkit, als Witwe des Unfallopfers eigentlich Opfer, aber dann ... etwas ganz anderes.
Nun, die Geschichte packt den Leser sowieso. Darauf ist Verlass. Alle großen Themen werden verhandelt, mitunter wie nebenbei: Liebe und Hass, Leben und Tod, Schuld und Sühne, Heimat und Fremde. Alles spielt sich auf kleinstem Raum ab, im eh schon kleinen Israel, fast wie ein Theaterstück.
Aber wie das gemacht wird, das ist das Besondere. Dieses Buch ist Literatur im besten Sinn. Hier steht das Erzählen 'an sich' im Vordergrund, das 'Wie': Wie die Autorin den Ton wechselt, die Atmosphäre verdichtet, den Leser mitzwingt. Das wirkt manchmal fast kühl, analytisch, distanziert. Aber gerade dadurch lässt Gundar-Goshen ihren Lesern kaum eine Chance, den eigenen Kopf und die eigenen Gefühle herauszuhalten.
Ayelet Gundar-Goshen: ›Löwen wecken‹
(Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama)
424 Seiten, Verlag Kein & Aber, Berlin (2015)
Vom Lesen & vom Schreiben
Social Media bieten wirklich spannende Möglichkeiten, zu teilen. Oder für sich selbst zu sammeln. Ich finde zum Beispiel FlipBoard sehr hilfreich. Und sammle in zwei Online-Magazinen, die für jedermann zugänglich sind, was ich so finde zu ›On Writing (Vom Schreiben)‹ und ›On Reading (Vom Lesen)‹. Anders als bei Printmagazinen kann man hier ständig nachlegen. Clickt mal drauf, zum Ausprobieren.
Munro: Eine Geschichte ist...
Alice Munro darüber, was eine Geschichte ausmacht: "Eine Geschichte ist nicht wie eine Straße, der man folgt ... sie ist mehr wie ein Haus. Du kannst immer und immer wieder zurückkehren, und das Haus, die Geschichte, enthält jedesmal mehr, als Du beim letzten Mal bemerkt hast. Sie hat außerdem ein sehr robustes Gefühl dafür, selbst aus ihrer ganz eigenen Notwendigkeit entstanden zu sein, und nicht etwa, um Dich zu schützen oder zu verführen." (mehr dazu)
Vom Lehren und Lernen
Der 5-Minuten-Lektüretipp: Auf medium gibt es einen wunderbaren kleinen Text von Jonathan Carroll zum Lehren und Lernen, insbesondere zum Umgang mit Literatur: "The correct answer is yes and no". Es geht im Kern darum, wie man ein Gedicht verstehen kann. Und wie noch. Und wie noch. Am Ende steht der schöne Satz: "Lehrer können Dir Türen öffnen. Hindurchgehen musst Du schon selbst."